Die Rückkehr des Absoluten

Das Elend fängt an, wo es nur ein Buch gibt, das gelesen werden darf: Sei es die Bibel, Hitlers "Mein Kampf" oder der Koran, sagt unser Kolumnist Jochen Schimmang. Doch radikaler Atheismus ist kein Ausweg.

Bibel

"Ich sagte, sie sollten die Bücher nicht zerreißen, denn viele Bücher seien ungefährlich, gefährlich sei nur ein einziges; sie sollten die Bücher nicht zerreißen, da deren Lektüre Weisheit erzeuge, während die eines einzigen Unwissenheit, Tobsucht und Hass verbreite." 

Das ist ein Satz aus dem Erzählband Ein Grabmal für Boris Davidowitsch von Danilo Kiš, der zu den bedeutendsten Autoren des zwanzigsten Jahrhunderts zählt und in diesem Jahr 80 Jahre alt geworden wäre. 26 Jahre nach seinem viel zu frühen Tod ist die Aktualität seines Werks geradezu gespenstisch. Der oben genannte Erzählband hat den Untertitel Sieben Kapitel ein und derselben Geschichte, und bei dieser ein und derselben Geschichte handelt es sich um die verschiedenen Formen der Inquisition.

Das Wesen der Inquisition ist nicht so sehr der Wille zur Vernichtung des Feindes – wenn er abschwört, schenkt man ihm eventuell das Leben –, sondern die Durchsetzung eines Absolutheitsanspruches, und dies nicht so sehr auf dem Weg der Indoktrination, sondern auf dem des Wissensverbotes. Es ist der Wille zum Wissen, der böse ist. Diese Erkenntnis trägt unter den modernen Terrormilizen die nigerianische Boko Haram schon im Namen, der bekanntlich mit "Bücher sind Sünde" übersetzt werden kann. Versteht sich, dass der Koran, das eine Buch, ausgenommen ist.

"Aber halt", lässt sich jetzt sofort wieder der Warnruf zur Toleranz vernehmen, "man darf doch diese Islamisten nicht mit dem eigentlichen Islam verwechseln, der selbstverständlich friedfertig ist!" Verwechseln darf man natürlich nie etwas, das führt zu falschen Schlüssen, aber so einfach machen darf man es sich auch nicht, das führt zum selben Resultat. Die Scharia und der Dschihad sind eherne Bestandteile des Islams und beruhen auf dem Koran, dem einen Buch, das gilt. Der Islam ist eine explizit politische Religion. Der Dschihad, der Kampf gegen die Ungläubigen, sei muslimische Pflicht. Wenn die Ungläubigen abschwören und sich bekehren, kann man sie am Leben lassen, ansonsten müssten sie vernichtet werden. Man kann diese Regeln nicht einer besonders radikalen Exegese der betreffenden Suren anlasten und behaupten, die richtige Exegese führe zur Friedfertigkeit.

Das Elend des einen Buches

Das Elend fängt vielmehr immer da an, wo es um die Exegese des einen Buches geht, des einzigen, das gelesen werden darf: item der Talmud, item die Bibel. Ich bin der Herr, dein Gott, du sollst keine anderen Götter haben neben mir. Friedfertige Religionen kann es nicht geben, wenigstens keine monotheistischen. Was die Götter für die Griechen und Römer in der Antike bedeutet haben und wie sie funktioniert haben mögen, darüber weiß ich nichts. Vielleicht waren das glücklichere, entspanntere Zeiten. Zumindest waren die Kriege damals nicht "heilig" und keine Kreuzzüge. Und dass der Buddhismus, angeblich die Religion des Friedens und der Gewaltlosigkeit par excellence, nicht immer gemäß seinem Ideal funktioniert, zeigt sich in Myanmar.

Mit einem Aufruf zur entschlossenen Säkularisierung oder gar zum militanten Atheismus und Antiklerikalismus ist allerdings niemandem geholfen. Die Inquisition ist zwar ursprünglich eine Erfindung der Heiligen Römischen Kirche und auch von ihr bis hin zur Anwendung der Folter nach und nach verfeinert worden, doch die nachfolgenden säkularen Religionen haben erfolgreich auf diesen Errungenschaften aufgebaut und sie noch weiter ausdifferenziert. Vor allem aber haben diese "Träumer des Absoluten" wie ihre religiösen Vorgänger das Prinzip des Wissensverbotes und des einen Buches fortgesetzt. Das eine Buch kann inhaltlich und literarisch sehr unterschiedliche Qualität haben. Es kann Das Kapital heißen oder Mein Kampf (bald wieder frei verfügbar!), Kurzer Lehrgang der Geschichte der KPdSU (B) oder Worte des Vorsitzenden Mao, Die Verfassung der Freiheit oder Der Mythos des 20. Jahrhunderts.

So viel Utopie wie nie

Allen Religionen, auch den säkularen, ist gemeinsam, dass sie für den noch nicht erreichten Zustand der Glückseligkeit immer die eine Ursache ausfindig gemacht haben, jenen Feind also, der erst ausgemerzt werden muss, bevor das Goldene Zeitalter anbrechen kann. Das Prinzip der Utopie ist monokausal und kommt deshalb in der Regel auch mit einem Buch aus. Zumindest mit einem Gedanken. Dass das utopische Denken nach 1989 verstorben sei, ist sicherlich der folgenschwerste Irrtum unserer Zeit. So viel Utopie wie heute war nie, und das fing gleich mit Fukuyamas Ende der Geschichte an, einem der naivsten und irgendwie auch anrührendsten Irrtümer der letzten Jahrzehnte. Dazu kommen die Ökoutopien (man muss hier von mehreren sprechen, da es innerhalb der Ökoszene ja erbitterte ideologische Auseinandersetzungen um den richtigen Weg geben kann), dann die schöne Utopie der einen – und damit konfliktfreien – Welt, die sich gleichsam natürlich im Zuge der Globalisierung ergeben soll, und natürlich die strahlende Utopie der Selbstregulierung der Märkte zum Wohle aller, der dummerweise nur die Menschen im Wege stehen.

Denn immer gibt es noch einen Störfaktor, der verhindert, dass die Welt so wird, wie sie sein muss. Denn wie sie sein muss, das wissen die jeweiligen Anhänger des einen Gedankens ziemlich genau. Vor die Glückseligkeit aber hat der Herr die Mühsal und den Kampf gesetzt. Darin unterscheiden sich die eher säkularen Utopien des Westens nicht von denen der alten Religionen. Für aufgeklärte Skepsis ist in keiner von ihnen Platz.

Die Pflicht zur Dummheit, zu "Unwissenheit, Tobsucht und Hass", wie es bei Kiš heißt, scheint sich dagegen inzwischen auf die Inquisitoren auszudehnen. Da gibt es offenbar einen Qualitätsverlust. Früher bestanden die Vertreter der reinen Lehre auf einem Geständnis, und sei es noch so offenkundig absurd. Sie waren auch diejenigen unter den Träumern des Absoluten, die erkennbar mehr als das eine Buch gelesen hatten. Wer Dostojewskis Großinquisitor oder die stalinistischen Inquisitoren aus Koestlers großartigem Roman Sonnenfinsternis mit den Kämpfern des IS oder von Boko Haram vergleicht, muss erschrecken. Das Inquisitionsverfahren, oft ein hochintellektuelles Schattenduell, entfällt inzwischen, statt dessen wird gleich getötet. Der absolute Wahrheitsanspruch der Kämpfer rechtfertigt die Gewalt, Inhalte müssen nicht mehr verhandelt werden, nicht einmal mehr zum Schein. Auf der anderen Seite zeichneten sich schon die selbsternannten Führer des "Kriegs gegen den Terror", die Dienstherren der Folterer von Abu Ghraib, nicht gerade durch intellektuelle Kompetenz und Differenziertheit aus. Dass der Mehrzahl der Gefangenen von Guantanamo bis heute kein ordentlicher Prozess gemacht worden ist, ist die natürliche Konsequenz.